Mit Pferden auf Tour

Grenzgänger auf Höhenwegen

Reiter im Val Mora

Neun Tage lang führt Men Juon vom Wanderreitbetrieb San Jon naturbegeisterte Reiter durch eine überwältigende Bergwelt im Dreiländereck Schweiz – Österreich – Italien. Der Treck führt durch einsame Bergtäler, über raue Alpenpässe und auf schmalen Pfaden über Fels und Geröll. Eine Reittour zum genießen und schauen, ein Erlebnis, das einem stets in Erinnerung bleiben wird.

Text und Fotos: Heike Gruber

Nur nicht stören, das sind meine Gedanken, während Jemira, die kleine Araberstute, vorsichtig Fuß vor Fuß setzt. Vor mir sehe ich Men auf Nabucco den schmalen Pfad entlang reiten. Steine spritzen unter den Hufen der Pferde empor und kollern hüpfend in die Tiefe. Zu unserer Rechten geht es mindestens genauso steil runter wie links rauf. Ganz unten am Talgrund schlängelt sich der Bach wie ein silbernes Band durch sein felsiges Bett. Nur nicht stören, damit Jemira nicht aus dem Gleichgewicht gerät, ein Fehltritt und… Mich schaudert es bei dem Gedanken, doch meine Sorgen sind völlig unbegründet. Jemira bewegt sich auf dem schmalen Pfad genauso sicher wie sonst auch.

Es ist der fünfte Tag unserer Reittour durch die atemberaubende Hochgebirgslandschaft im Dreiländereck Schweiz – Österreich – Italien. Insgesamt neun Tage lang reiten wir ausgehend vom Schweizer Engadin über Österreich ins italienische Südtirol und wieder zurück ins Engadin. Mehrere Tausend Höhenmeter werden die Pferde in dieser Zeit überwinden und der Blick auf die Karte, die Men an uns alle verteilt hat, verrät von vorneherein: Wir werden jede Menge überwältigende Natur erleben.

Ich ahne jedoch noch nichts von schwindelnden Pfaden und felsigen Kletterpartien, als wir vor fünf Tagen in San Jon starten. Entlang des Inn, der milchig weiß daherströmt und dessen Rauschen uns zur steten Begleitmusik wird, geht es zu unserem ersten Etappenziel nach Nauders. Gemütlich und mit genügend Zeit für Pferd und Reiter, um sich kennenzulernen, führt uns der Weg auf der Sonnenterrasse des Tals vorbei an kleinen Bergdörfern, Wiesen und Weiden, auf denen Glockenblumen, Eisenhut und Silberdistel im Sonnenlicht baden. Ein geeigneter Rastplatz am Ufer des Inn ist rasch gefunden und während ich meinen Füßen eine Abkühlung im Fluss gönne, blicke ich voll gespannter Vorfreude hinauf zu den Berggipfeln, die sich entlang des Tals aneinander reihen. Wie aus Pappmaschee geformt, zeichnen sie sich im gleißenden Sonnenlicht klar gegen den strahlend blauen Himmel ab. Schon morgen werden wir dort oben reiten, werden aus dem Tal hinauf steigen und in das gewaltige Bergpanorama eintauchen. Ich kann es kaum erwarten.

Mittendrin im Hochgefühl der Berge

Am nächsten Morgen haben die Pferde rasch ihren Rhythmus gefunden und wir gewinnen schnell an Höhe. Wie kleine Spielzeugfiguren sehen wir tief unter uns am Talgrund die Häuser, an denen wir doch eben erst noch vorbei geritten sind. Vor uns erhebt sich zum Greifen nahe und mächtig der Piz Lad, unterhalb seines 2.808 Meter hohen Gipfels stoßen die Schweiz, Italien und Österreich aneinander. Hier am Dreiländereck machen wir Mittagsrast, inmitten von knorrigen Legföhren, die sich vom Wind zerzaust in Mulden ducken. Die anstrengende Anfahrt, der Alltag – all das ist längst in weite Ferne gerückt. Mittendrin im Hochgefühl der Berge sitzen wir zwischen den angebundenen Pferden im trockenen Gras und genießen unser Mittagslunch, den Blick auf die graublauen Gipfel der gegenüberliegenden Talseite und vor allem: die Stille. Kein Zivilisationsgeräusch ist hier oben zu hören, nur das zufriedene Mahlen der kauenden Pferde und ab zu ein Windhauch, der über die Sträucher streicht.

Verheißungsvoll ragen die Berge vor den Reitern auf.

Auch die nächsten drei Tage führen uns stets hoch hinaus und vor grandiosem Alpenpanorama über Reschen und Burgeis bis nach Santa Maria. Wir reiten über den Reschenpass und dann steil hinunter zum Reschensee, an dessen Ufer wir bei erfrischendem Aperol Spritz die wärmenden Sonnenstrahlen eines spätsommerlichen Abends genießen. Wir begegnen neugierigen Kuhherden, deren Glockengeläut munter durch den Wald schallt, wir rasten auf saftigen Almwiesen und trinken Holundersaft und frisch gemolkene Milch auf der Brugger Alm. Wir passieren die höchstgelegene Benediktinerabtei Europas, sehen das zum Weltkulturerbe ernannte Kloster St. Johann in Müstair und überqueren gegen Nusstorte und einen freundlichen Schwatz mit dem Bauern auf dessen Wiese die grüne Grenze zwischen Italien und der Schweiz. In Santa Maria besuchen wir die kleinste Whiskeybar der Welt und üben mit gelöster Zunge die „Schwitzer-Dütsch-Vokabeln“ unserer Schweizer Mitreiter. Die Nächte verbringen wir stets höchst komfortabel, jeden Abend erwartet uns eine erfrischende Dusche, ein leckeres Menü und ein gemütliches Hotelbett, in dem wir dem nächsten Morgen entgegenschlummern.

Steil ragen die Hänge entlang des Weges zum Val Mora empor.

Im Val Mora entfalten die Alpen ihre ganze Pracht

Kein Zweifel: Der fünfte Reittag ist einer der großen Highlights dieses 9-Tages-Trecks. Er führt uns in das Val Mora, das mit einem Dreitausender neben dem anderen aufwartet, das prächtige Sonnenwetter tut sein Übriges. Dabei beginnt der Tag eigentlich ganz harmlos. Am Morgen reiten wir entlang eines gut ausgebauten und breiten Weges hinein in dichten Nadelwald, Kurve für Kurve schraubt er sich langsam nach oben. Und mit jedem Schritt der Pferde tauchen wir tiefer ein in das Abenteuer einer hochalpinen Reittour. Durch die Bäume erhaschen wir immer wieder einen Blick auf die Berge vor uns, die rauer und höher werden. Wasserfälle stürzen sich die steilen Felsflanken herunter, dann wird der Wald lichter, steil ragen schuttbedeckte Hänge wie mit dem Lineal gezogen entlang des Wegs empor. „Seht dort hinten“ ruft Men. Er hat zwei dicke fette Murmeltiere entdeckt, die sich faul in der Sonne räkeln. Aufgeregt werden Fotoapparate gezückt, für manch einen in der Gruppe ist dies die Murmeltier-Premiere, ein wahrlich denkwürdiger Moment.

Vor berauschender Bergkulisse durch das Val Mora

Fast unmerklich haben wir uns der Baumgrenze genähert und dann öffnet sich vor uns wie der Eingang zu einer Märchenwelt das Val Mora. Weit und sanft leuchten die Hügel in gelben und grünen Farben, umgeben von schroffen weiß schimmernden Gipfeln, die kontrastreich in den kobaltblauen Himmel ragen. Bei diesem Anblick stockt mir der Atem, ich bin mir sicher: In den Rocky Mountains kann es nicht schöner sein.

Und als ob dies noch nicht genug wäre, tauchen hinter einer Kurve Pferde auf. Völlig frei verbringen sie hier oben den Sommer, durch keinen Zaun begrenzt und geschützt vor lästigen Fliegen und Bremsen. Neugierig kommen sie herangaloppiert, als sie uns bemerken, vor allem die Fohlen bocken übermütig und begeistert über die Abwechslung. Das Bild dieser Pferde vor der grandiosen Bergkulisse und ich mittendrin – es ist ein Moment des puren Glücks.

Irgendwann dann wird der Weg wieder schmaler und das Tal enger. Die weißen Gipfel verschwinden langsam hinter uns und weichen mit Kiefern bewachsenen steinigen Hängen. Über Schutt und Geröll führt uns der schmale Weg bis an die Grenze zu Italien, wo wir die Nacht in der einsam gelegenen Villa Valania auf 2.000 Metern Höhe verbringen.

Eine Herde Freiberger verbringt den Sommer im Val Mora.

Zwischen den Tälern

Der gestrige Tag war ein Paukenschlag, aber nicht der letzte dieser Reittour! Auf ausgetretenen Pfaden durchreiten wir auch in den nächsten Tagen eine Bergwildnis in verschwenderischer Schönheit. Manchmal könnte man meinen, hier habe sich jemand an einer kitschigen Malerei versucht, so kräftig sind das Blau des Himmels, das Grün des Grases und die silbern schimmernden Berge. An manchem der Gipfel schiebt sich wie eine zäh fließende Masse ein Gletscher hinab, an anderen wieder haben sich Schutt und Steine zu formschönen Kegeln angehäuft, wieder an anderen können wir die gefalteten Gesteinsschichten sehen, die vor Jahrmillionen von den Kräften der Natur aufeinander geschoben wurden.

Erst am siebten Tag erwischt uns Regen. Doch da macht es uns schon gar nicht mehr viel aus. „Hauptsache es schneit nicht“ sagt Men, denn heute steht die Überquerung des Pass da Chachauna auf fast 2.700 Metern Höhe an. Einem langen und steilen Anstieg folgt ein ebenfalls langer und noch steilerer Abstieg, der bei Schnee nicht zu machen wäre.

Den Aufstieg meistern die Pferde wieder mit Bravour. Obwohl ich bereits im vergangenen Jahr die Ausdauer und Kraft der Pferde von San Jon erlebt habe, bin ich auch dieses Mal von neuem begeistert. Sie klettern über blanken Fels und Geröll, kein Stolpern und kein Stocken bringt sie aus dem Takt, egal ob steil hinauf oder steil bergab. Stetig und zügig gehen sie Schritt für Schritt, wir überholen keuchende und staunende Mountainbiker, die ihren Drahtesel bereits schieben, so steil ist es. Im Talkessel tief unter uns brodelt es in der Wolkenküche, einzelne Wolkenfetzen wabern hinauf und bleiben in Rinnen und Mulden entlang der Bergflanken hängen, es ist eine mystische Stimmung. Das Pfeifen der Murmeltiere begleitet uns auf dem Weg nach oben.

Den Aufstieg zum Pass krönt normalerweise ein überwältigender Rundumblick über das Engadin und die italienischen Alpen. Doch uns haben die dicken Wolken eingeholt, alles versinkt im nasskalten Grau und ein bissiger Wind fegt über die Hochebene. Daher zögern wir nicht lange, nach einem schnellen Erinnerungsfoto machen wir uns direkt an den Abstieg.

„Immer mit der Hand zum Berg führen und mindestens eine Pferdelänge Abstand halten“ bläut uns Men ein. Und nicht umsonst, der sandige Pfad ist durch die Nässe aufgeweicht und an manchen Stellen glatt wie Schmierseife. Trotz meiner Wanderstiefel rutsche ich den Berg mehr hinunter als dass ich laufe. Doch der Lohn der Mühen zahlt sich aus: Auf der anderen Seite des Passes erwartet uns ein weiches, von eiszeitlichen Gletschern geformtes Tal mit sanft gewölbten grünen Hängen und sumpfigen Wiesen. Ich wähne mich in den schottischen Highlands. Hier machen wir Rast, der lange anstrengende Abstieg steckt uns in den Beinen und wir sind froh, dass wir uns ein wenig im Gras ausstrecken können.

Flottes Finale im Inntal

Langsam schließt sich die Runde. Nach acht beeindruckenden Reittagen durch die unterschiedlichsten alpinen Landschaften geht es im flotten Tempo in Richtung San Jon zurück. Flott, weil uns der Weg meistens entlang der Höhenlinien durch das Inntal führt und Men den ein oder anderen Trab erlaubt. Wir erreichen Guarda, eines der schönsten und urtümlichsten Engadiner Dörfer. „Dort hinten kann man schon San Jon sehen“ sagt Men und zeigt auf die gegenüberliegende Talseite. Und tatsächlich, dort sehen wir winzig klein den Saloon und einige Pferde auf der Wiese. Und noch ein wenig kleiner, fast kaum zu erkennen, ein roter Punkt, unser Auto. Wehmut überfällt mich bei diesem Anblick, denn es kündigt das nahende Ende dieser Tour an.

Eine letzte Kletterpartie auf einem steilen und schmalen Bergpfad bringt uns hinauf, zurück nach San Jon. Tief unter uns sehe ich die spielzeuggroßen Häuser von Scuol. Plötzlich verspannt sich Jemira, bockt und macht zwei Galoppsprünge – offenbar wurde sie von einem riesigen Insekt geärgert. Steine poltern in die Tiefe, links des Weges geht es fast senkrecht hinunter, rechts fast senkrecht hinauf. Besorgt blickt sich Men um. „Alles in Ordnung?“ fragt er. „Natürlich! Hier kann man ja noch mit dem Kinderwagen entlang fahren!“ antworte ich lässig.