Mit Pferden auf Tour

Die Entdeckung der Langsamkeit

Einst ritten Postreiter durchs Land, um eilige Botschaften zu überbringen – die sogenannte Stafette. Auch heute gibt es noch Stafetten, aber die Eile ist einer wohltuenden Langsamkeit gewichen. Bei der Stafette der Deutschen Wanderreiter-Akademie erlebt die Seele eine Auszeit auf den schönsten Traumpfaden Deutschlands und seinen Nachbarländern.

Text und Fotos: Heike Gruber

Mit dem Auto von Wien nach Reckenthal im Westerwald sind es 797 Kilometer, das schafft man bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 km/h in rund 8 Stunden. Mit dem Pferd sind es 50 Tage, macht bei durchschnittlich 5 Stunden täglich im Sattel gut 250 Stunden reine Reitzeit. Mit dem Auto fährt man über die Autobahn, vorbei an Linz, Passau, Regensburg, Nürnberg, Würzburg – wunderschöne Städte, aber sehen wird man sie nicht. Mit dem Pferd reitet man meist auf Wiesen- und Waldwegen, durch kleine Dörfer und Weiler bis nach Tschechien und durch Orte wie Slapanov oder Zlutice, schließlich über die Grenze nach Deutschland, durchquert Fichtelgebirge, Thüringer Wald, Rhön, Wetterau, Westerwald – wunderschöne Landschaften und sehen kann man alles ganz genau.

Die Wegwarte am Wegesrand, ein äsendes Reh im Unterholz, ein freundlicher Plausch mit dem entgegenkommenden Wanderer, die Übernachtung im Haus des befreundeten Wanderreiters, all das gehört zu einer Reise zu Pferd dazu wie die in Sekundenschnelle vorbeihuschenden Hinweisschilder auf Sehenswürdigkeiten bei einer Fahrt auf der Autobahn. Es ist die Sehnsucht nach diesem anderen Lebenstempo für einige Tage, nach ein bisschen Entschleunigung vom Alltag, die immer mehr Menschen an einer Reise zu Pferd so fasziniert.

Unterwegs mit Pferd und Planwagen als Trossfahrzeug

Von Wien auf den Prager Karlsplatz und weiter bis nach Hessen

Auch die Teilnehmer der diesjährigen Stafette der Deutschen Wanderreiter-Akademie (DWA) gehören zu jener Sorte Menschen, die in der Wanderreiterei ihre perfekte Auszeit von Beruf und Alltag finden. „Wien – Prag – Reckenthal – eine böhmische Fantasie“, unter dieser Überschrift startete am 10. Juni die DWA-Stafette 2013. In insgesamt acht Etappen trugen vier Wanderrittmeister der Akademie gemeinsam mit ihren Gästen das Staffelholz von Wien, durch Tschechien, ja sogar bis auf den Prager Karlsplatz und von dort weiter nach Deutschland bis nach Hessen, in den kleinen Ort Münster Butzbach.

Als wir gegen Abend in Butzbach eintreffen, sind die Straßen wie leergefegt, sonntägliche Stille liegt über dem Ort. Nur ein Plakat, das mit großen roten Lettern gegen die geplanten Windkraftanlagen im nahe gelegenen Hochwald protestiert, lässt hinter mancher der dörflichen Fassade Konfliktpotenzial vermuten. Hinter dem großen Holztor des Hofes von Birgit Stanzel-Fett wartet auf uns aber erst einmal das Wiedersehen mit Herbert Fischer, der die 8. und letzte Etappe der DWA-Stafette, die wir begleiten werden, organisiert hat. Geführt wird die Etappe von Michael Brinkmann, der damit seine Prüfung zum DWA-Wanderrittführer ablegen wird. Überhaupt ist diese Etappe die Woche der Prüfungen. Fast jeden Tag wechselt die Gruppe, stoßen neue Prüflinge hinzu, die DWA-Wanderreiter, -Geländrittführer oder -Wanderrittführer werden wollen. Die einen einfach nur so zum Spaß, die anderen, weil sie damit Geld verdienen und sich ein neues Standbein aufbauen möchten.

Es muss nicht immer Reiten sein!

Aber das vielleicht besonderste an dieser Etappe ist unser Trossfahrzeug: ein Planwagen, wie aus dem wilden Westen entsprungen, gezogen von den zwei jungen Freibergern Minette und Zeus. „Schon seit über 70 Jahren träume ich von einer Kutsche als Trossfahrzeug“ erzählt Herbert zufrieden. Nun erfüllen ihm Anne und Christoph Geipel seinen Traum. Die beiden Programmierer haben umgesattelt: vom Pferderücken auf den Kutschbock. Und obwohl die Druckertinte ihres Fahrabzeichens gerade erst getrocknet ist, wagen sie sich direkt auf die große Fahrt. Das gebührt Respekt. Und wer glaubt, die beiden wären waghalsige Draufgänger, der irrt.

Jeden Morgen planen Anne und Christoph akribisch die Tagesetappe auf der Karte. Während wir Reiter relativ flexibel sind, was Wege und Steigungen betrifft, gibt es bei der Planung einer Kutschenstrecke erhebliche Anforderungen. Möglichst wenige Steigungen sollten es sein – eine echte Herausforderung in einem Mittelgebirge. Möglichst wenig Verkehr sollte es sein – eine echte Schwierigkeit, wenn man keine schmalen Feld- oder Waldwege nehmen kann. Und wird die Realität am Ende der Ansicht auf der Karte entsprechen? Ein Falsches Abbiegen kann schnell zum ernsthaften Problem werden, denn so ein Planwagen ist nicht mal eben gewendet.

Stolz erhebt sich im Hintergrund das Schloss Braunsfels mit vielen Türmen und Erkern über der gleichnamigen Stadt.

Wenn Christoph erzählt, wie er und Anne aufs Pferd gekommen sind, steckt er sich erst einmal genüsslich eine dicke braune Zigarre an. „Das ist eine lange Geschichte“, beginnt er und erzählt dann, dass weder er noch Anne bis vor drei Jahren überhaupt irgendetwas mit Pferden zu tun hatten. Alles fing mit einem Centaur-Kurs auf dem Fischerhof an, dann kam die kleine Tochter Rosa und es war klar, dass es mit der Reiterei vorerst vorbei war. Aber das Pferdevirus saß schon tief und deshalb begann die Suche nach einer geeigneten Kutsche und anschließend nach dem perfekten Freibergerpaar, die in der Schweiz begann und schließlich im Süden Deutschlands ihr erfolgreiches Ende fand.

Die Stafette ist die Feuerprobe für das Gespann. Sie sind noch kein ganz eingespieltes Team und Anne macht sich Sorgen. „Minette zieht nicht richtig und lässt Zeus die ganze Arbeit machen“, berichtet sie. Außerdem macht den Pferden die extreme Hitze sehr zu schaffen. Das Thermometer klettert jeden Tag unerbittlich über die 30-Grad-Marke. Auch wir Reiter werden in der sengenden Sonne regelrecht gebraten. Wann immer möglich, suchen wir Wege im schattigen Wald, wo es einigermaßen erträglich ist. Eine Erleichterung, die sich das Gespann nicht immer verschaffen kann. Häufig halten Anne und Christoph deshalb an, lassen die Pferde verschnaufen und tränken sie. Vor allem bei den Steigungen geht es manchmal nur quälend langsam voran. Der Planwagen ist schwer, die Pferde noch jung. Sie erbringen Hochleistungen in diesen Tagen.

Viele kleine und große Erlebnisse säumen unseren Weg

Die 8. Etappe führt uns von Butzbach am Rand der Wetterau hinein in den Taunus mit seinen weitläufigen Wäldern. Stolz erhebt sich das Schloss Braunsfels mit vielen Türmen und Erkern über der gleichnamigen Stadt. Die Hufe der Pferde klappern über Kopfsteinpflaster, erstaunte Gesichter blicken aus den Fenstern und Türen der pittoresken Fachwerkhäuschen als wir mitten auf den historischen Marktplatz unterhalb des Schlosses einreiten. Von dort aus geht es weiter hinunter ins Tal der Lahn; auf der anderen Seite des träge dahinfließenden Flusses empfangen uns der Westerwald und Erhard Ebert, unser Scout des nächsten Reittages. Erhards Begeisterung für die Wanderreiterei ist überall zu spüren. Auf seinem Hof Waldfrieden, wo er uns stolz die vielen Fotos vergangener Touren zeigt, und unterwegs, wenn er im Sattel die Mundharmonika spielt und uns so regelrecht in den Wilden Westen versetzt.

Während es bei einer Stafette im ursprünglichen Sinn immer darum ging, eine Botschaft möglichst schnell von A nach B zu überbringen, geht es bei der DWA-Stafette genau ums Gegenteil. Die Botschaft, die dabei überbracht wird, ist ganz einfach: Der Weg ist das Ziel. Die betrunkenen Bikerjungs, die uns in Braunsfels den Schlaf raubten, der Moment nach einem Tag in sengender Hitze, als uns Dominik vom Fischerhof eine große Kiste mit kalten Getränken überbrachte, das Ständchen der Jagdhornbläser am Vöhrer Weiher, die täglich neuen und schönen Bekanntschaften mit Wanderreitern und viele andere kleine und große Erlebnisse säumen den Weg der 8. und letzten Etappe der Stafette 2013. Und als wir am Ende auf dem Fischerhof ankommen, sind wir uns alle einig: Wenn wir mit dem Auto gefahren wären, wären wir ganz bestimmt schneller angekommen. Aber wie schnell wäre diese Fahrt auch vergessen gewesen!