Auf den Spuren der Salzkarawanen führt Csaba Gall seine Gäste durch die Bergwelt der rumänischen Karpaten. Eine Tour für jene Reiter, die das Abenteuer suchen und auf Komfort und Luxus auch mal verzichten können. Wer es wagt, der findet auf dem Rücken der Pferde eine ursprüngliche und raue Natur, hört Abends am Lagerfeuer die Hirsche röhren und des Nachts unter einem sternenübersäten Himmel vielleicht auch mal einen Bären brüllen. Vergiss den Rest der Welt und tauche ein in eine Zeit fern ab von Internet und Tagesgeschehen. Hier zählt nur der Augenblick.
Text und Fotos: Heike Gruber
Es ist stockfinstere Nacht als ich plötzlich aufwache. Irgendein Geräusch war da, ich bin mir sicher. Reglos horche ich in die Nacht hinein und da ist es wieder: ein dumpfes Brüllen, gefolgt von einer Art Fauchen. Die Hunde der Waldarbeiter fangen wie verrückt an zu bellen. Ein greller Pfiff durchdringt die dunkle Nacht. Rufe, dann wieder Ruhe. Da draußen muss er irgendwo herumschleichen: ein Braunbär. Mit einem wohligen Grusel ziehe ich meinen Schlafsack enger um mich und bin kurz darauf wieder eingeschlafen.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es hell, der Geruch von Feuer liegt in der Luft und Csaba (sprich: Tschabo) ruft: Regeli, regeli! Frühstück ist fertig! Verschlafen kommen wir aus unseren Zelten gekrochen, das Gras ist noch feucht, aber die Sonne verbreitet schon ihre ersten wärmenden Strahlen. „Habt Ihr das auch gehört – den Bären heute Nacht?“ Nur Martin hat das Ereignis völlig verschlafen und mag nicht so recht glauben, was wir anderen da erzählen. „Hier in den Karpaten gibt es noch 5.000 bis 6.000 Braunbären“, erzählt Csaba Gall vom Wanderreitbetrieb Hipparion, mit dem wir sechs Tage lang durch die Berge von Harghita und Görgény reiten. Tatsächlich begegnen wir während unseres Rittes ständig mehr oder weniger frischen Spuren und anderen Hinterlassenschaften von Bären. Aber auch Wölfe, Luchse und die Wildkatze sind in den weitläufigen Wäldern der Karpaten zu Hause. Die Wahrscheinlichkeit, eines dieser scheuen Tiere zu sehen, ist jedoch eher gering. Und so soll es auch für uns beim Spurenlesen und dem einmaligen nächtlichen Bärengebrüll bleiben.
An diesem Tag sitzen wir erst gegen Mittag auf den Pferden. Überhaupt geht es sehr gemütlich zu bei dieser Tour. Während Martin und ich an den ersten beiden Tagen noch pünktlich, wie am Vorabend abgemacht um 9:00 Uhr parat stehen, passen wir uns spätestens ab dem dritten Tag dem rumänischen Rhythmus an, also immer mindestens eine Stunde später als vereinbart aufstehen, frühstücken, los reiten… Sobald wir uns dem hingeben, ist es ein leichtes, der Hektik des heimischen Büroalltages endgültig zu entkommen. Der hatte uns vor zwei Tagen noch voll im Griff, als wir nach zweistündigem Flug und anschließender rund zweistündiger Autofahrt in Georgheni, ganz im Osten von Siebenbürgen gelegen, ankommen. Hier wird unser Gepäck vom kleinen Skoda erstmal in einen robusten Land Rover verladen und los geht es in die Berge.
Ab jetzt wird die Reise abenteuerlich, auf der staubigen und kurvenreichen Schotterpiste werden wir im Auto kräftig durchgeschüttelt, von links nach rechts und wieder nach links geworfen. Die Sonne steht schon tief am Himmel, als wir an Csabas Haus mitten in den Bergen ankommen: ein einfaches Blockhaus, das im Sommer als Ausgangspunkt für die verschiedenen Wanderreittouren dient und im Winter normalerweise unbewohnt ist. Zur Begrüßung gibt es erstmal einen klaren Schnaps aus der Plastikflasche. Erst einen und dann noch einen und dann … „Man muss doch mindestens auf zwei Beinen stehen“, sagt Csaba grinsend und schenkt noch mal nach.
„Mein wichtigstes Instrument ist die Stirnlampe“, sagt Csaba. Denn Strom gibt es hier oben nicht, immerhin hat das Haus aber ein Badezimmer mit Toilette, Waschbecken und sogar eine Dusche, alles mit Wasser aus der nahe gelegenen Quelle gespeist. Handyempfang gibt es nicht, wenn überhaupt, dann nur ein Stück den Berg hinauf und auch dort nur in einem Radius von etwa 10 Metern. Ich schalte es einfach aus und fühle mich fast ein wenig wie befreit. Geschlafen wird im Mehrbettzimmer, gegessen im Licht der Stirnlampen auf der Veranda, von der aus man einen grandiosen Ausblick auf die weißen Kalkfelsen des gegenüberliegenden Karpaten-Hauptkammes hat. Als der Abend dämmert, hören wir unten im Tal die Hirsche röhren und später, unter einem mit Sternen übersäten Himmel, denke ich mir: Das ist noch echte Wildnis, genau das hatte ich mir von dieser Reise nach Transsilvanien, das Land der Vampire und von Graf Dracula erhofft. Wie zur Bestätigung gleitet schnell eine Sternschnuppe über den Nachthimmel.
Mitten in der Nacht bricht Csaba mit einem jungen Helfer aus der Stadt auf, um die Pferde zu suchen. 1.000 Hektar Land hat er um seine Hütte herum und irgendwo laufen seine 18 Pferde frei herum. „Große Scheiße“, sagt Csaba zwinkernd. Der Nachbar hatte einen Tipp gegeben, trotzdem ist es schon früher Vormittag als wir Gewieher und Hufgetrappel hören. Csaba kommt mit fünf Pferden im Schlepptau zurück, vier Schimmel und ein Braunes. Die Satteltaschen sind bereits gepackt, wir müssen nur noch putzen, satteln und dann sitzen wir auch schon auf – unsere Wanderreittour auf den Spuren der Salzkarawanen durch die Karpaten hat begonnen.
Im gemächlichen Tempo geht es auf staubigen Wegen durch dichten Nadelwald und über weite Wiesen. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet, das Gras ist verdorrt, die Landschaft sieht mit ihren braunen und gelben Farben fast schon herbstlich aus. Inmitten dieser weiten bergigen Landschaft bauen wir abends unser Nachtlager auf. Kunik, das Packpony hat unsere Zelte, Schlafsäcke, Essensgeschirr und Nahrungsmittel getragen. Wir haben lediglich etwas Kleidung für drei Tage, unsere Regenmäntel und unser Lunchpaket in den Packtaschen am Pferd. Meine braune Stute Czilosch und das Packpony Kunik werden am langen Seil angepflockt, die anderen drei Pferde einfach laufen gelassen. „Schluss mit Urlaub!“, ruft Csaba. Das bedeutet erstmal Feuerholz sammeln, Zelte aufbauen, an der Quelle Wasser holen und dann kocht unser Abendessen im Kessel über dem prasselnden Feuer. Glutrot geht die Sonne hinter den Baumwipfeln unter, im schwachen Schein der Stirnlampe kriechen wir in unsere Schlafsäcke und träumen dem nächsten Morgen entgegen.
Nach dem Frühstück aus einem Schluck Schnaps, Rührei mit Speck und einem Becher Tee aus frisch gepflückter Brennnessel – und zwar genau in dieser Reihenfolge – bepacken wir am nächsten Morgen wieder unsere Pferde. „Indulás!“, Los geht`s! ruft Csaba und die kleine Karawane setzt sich in Bewegung. Wir durchreiten Wälder und Wiesen, mal auf ausgewiesenen Wanderwegen, dann wieder querbeet über Stock und Stein. „Jetzt kommt eine kleine Galopp!“, ruft Csaba und unter fröhlichem Gejohle preschen wir los. Das Packpony, das frei mit der Herde mitläuft, sucht sich seinen Weg zwischen den Bäumen, rupft hier und da ein Büschel Gras, um dann im schnellen Trab wieder aufzuschließen. Hin und wieder bleibt es mit seinen großen Packtaschen zwischen den Bäumen hängen, das scheint es aber weniger zu stören, es zieht einfach so lange, bis es wieder frei kommt. Wie er diese Wege alle gefunden habe, möchte ich von Csaba wissen, der gänzlich ohne Karte unterwegs ist. „Ich kenne viele Leute und habe einfach gefragt, wo die schönsten Wege sind und wo Rastplätze in der Nähe einer Quelle“, sagt er. Gerade das mache ihm viel Spaß, erzählt er. Immer wieder neue Wege zu finden und neue Touren zu entwickeln. Zurzeit hat er 15 mehrtägige Wanderreittouren im Portfolio. Manche davon sind so abseits der Zivilisation, dass ausschließlich im Zelt übernachtet werden kann. Andere, wie „Der Salzweg durch die Berge“, bieten auch einmal die Gelegenheit für eine Übernachtung in einer Pension und damit ein bisschen mehr Komfort. Auch ich bin ehrlich gesagt froh, als wir in der dritten Nacht von der harten Isomatte auf ein weiches Bett umsteigen können und ich mir den Staub von drei Reittagen aus den Haaren waschen kann. Csabas Freundin Kinga hat außerdem unser restliches Gepäck mitgebracht, sodass wir Kleidung wechseln und Akkus aufladen können.
Venyige István, der freundliche ungarische Pensionsbetreiber (www.tunderkertpanzio.hu/) spricht sogar ziemlich gut deutsch, weil er als junger Mann mehrere Jahre in Dresden gearbeitet hat. Wie so viele Ungarn ist er hierher ins Szeklerland gezogen. Fast 60 Prozent der hiesigen Bevölkerung sind Szekler, eine ungarisch sprechende Bevölkerungsgruppe im Osten Siebenbürgens. Venyige hat das große Holzhaus mit kirchturmartigem Aussichtsturm und mehreren Ferienwohnungen gebaut, um vor allem Wanderer und Mountainbiker hierher zu locken. Mittlerweile ist aber auch Csaba mit seinen Reitergruppen regelmäßig zu Gast in dem kleinen Dorf Ivó.
Am nächsten Morgen verabschieden wir uns nach einem typisch ungarischen Frühstück mit in Ei gebratenem Brot, jeder Menge roter Paprika und dem obligatorischen Glas Schnaps von unserem Gastgeber. Jeder von uns mit einem Glas leckerer, selbst gemachter Heidelbeermarmelade und einer Flasche Bier im Gepäck, die uns Venyige noch schnell in die Hand drückt.
Unser Weg führt uns durch eine hügelige Kulturlandschaft mit weit verstreuten Häusern und verfallenen Höfen. Immer wieder können wir von den Zwetschgenbäumen am Wegesrand einzelne Früchte pflücken, ab und zu müssen wir ein Pferd verscheuchen, das frei auf der Straße herumläuft und sich nur allzu gern unserer kleinen Herde anschließen möchte. Csaba lacht sich kaputt, als ich ihm erzähle, dass bei uns die Polizei kommt, wenn ein Pferd frei herum läuft. Hier ist das völlig normal. Völlig normal ist leider auch das Halten von Hunden an der Kette. Fast an jedem Hof findet man Kettenhunde, die sich würgend in die Kette werfen und aufgeregt bellen, wenn wir vorbei reiten. Gebraucht werden die Hunde vor allem als Schutz vor Bären und Wölfen. Fast jeder Bauer hält sich nicht nur einen, sondern gleich mehrere Hunde. Auch Csaba hat sechs Hunde, die zum Glück nicht an der Kette, sondern völlig frei, fast wie ein halbwildes Rudel ganzjährig an seiner Hütte leben. Aber auch sie konnten nicht verhindern, dass Csaba schon mehrere Fohlen an Bären und Wölfe verloren hat. Ganz große Scheiße sei das, sagt Csaba und holt die Fohlen jetzt zumindest für den Winter hinunter ins Tal, bis sie kräftig genug sind, um sich bei einem Angriff wehren zu können.
Die letzte Nacht verbringen wir wieder sehr rustikal in einer Jagdhütte mitten im Wald. Kein Strom, kein fließend Wasser, es gibt Katzenwäsche an der eiskalten Quelle und Kesselspeise vom Feuer. Die Pferde fressen das spärliche Gras, manche sind recht dünn und ich denke an unsere kugelrunden Ponies, die meist viel zu viel zu essen haben und häufig unter Wohlstandskrankheiten leiden. Die Pferde hier leben frei und auf riesigen Flächen können sie im Herdenverbund artgerecht nach Futter suchen, müssen aber damit auskommen, was sie finden und sind den Naturgewalten, Trockenheit, Schnee, Bären und Wölfen ausgesetzt. Trotzdem empfinde ich das Leben dieser Pferde nicht als schlecht. Während der Touren müssen sie ihr Geld verdienen, sie werden dann auch mit Kraftfutter zugefüttert und Csaba achtet darauf, dass kein Sattelzeug und keine Satteltasche scheuert. Tatsächlich haben diese Pferde weniger Druckstellen als manch anderes Pferd mit teurer Wanderreitausrüstung, das ich in Deutschland schon gesehen habe.
Als wir nach sechs Tagen wieder an Csabas Hütte ankommen, bin ich nicht nur um einige Gläser Schnaps, sondern auch um viele Eindrücke reicher. Abends sitzen wir mit zwei Ungarn zusammen, die am nächsten Tag mit Csaba zu einem vierwöchigen Ritt nach Ungarn aufbrechen. Victor kommt schon seit Jahren hierher zum reiten. Der Mittvierziger ist Geschäftsführer eines international tätigen IT-Unternehmens, besitzt selber mehrere Pferde und könnte sich sicherlich auch einen teuren All-Inclusive-Urlaub leisten. Aber er zieht es vor, immer wieder hierher zu kommen, in die Einsamkeit und Wildnis. „Hier werde ich wieder geerdet“, sagt er. „Und ich komme mit klarem Kopf und vielen neuen Ideen zurück zu meinen Leuten“. Ja, ich kann ihn verstehen. Als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg zum Flughafen machen, werfe ich einen letzten Blick zurück. Das schlichte Holzhaus, die weißen Felsen auf der gegenüberliegenden Talseite werden von der aufgehenden Sonne in warmes Licht getaucht. Die grasenden Pferde heben sich wie Silhouetten vor dem Morgenhimmel ab. Dann biegen wir um eine Kurve, ich lehne mich in meinem Sitz zurück und bewahre dieses schöne Bild von Frieden und Ruhe tief in mir auf.